Der Held des Abends

Published: Nov. 9, 2023, 11:58 a.m.

b'Der Mann verheddert sich in der Pressekonferenz. Er verliest eine Erkl\\xe4rung und im komplizierten Amtsdeutsch wei\\xdf er selber nicht so genau, was er da sagt. Man soll, wie immer damals, Antr\\xe4ge stellen d\\xfcrfen und Genehmigungen erhalten. Irgendwas mit st\\xe4ndig und immer. Aber ein italienischer Journalist hakt nach und will N\\xe4heres wissen. Ab wann diese Regelung gelten soll und ob auch f\\xfcr Berlin? Er w\\xfchlt in seinen Zetteln und Unterlagen und stammelt: "Nach meiner Kenntnis sofort, unverz\\xfcglich."\\n\\nEs war ein Versehen, ein Versprecher, ein, in der Bedr\\xe4ngnis der Konferenz nicht richtig gelesener Zettel. Aber welche Auswirkung! Als erstes bringt die britische Nachrichtenagentur Reuters die Nachricht, dann die Tagesschau, dann das heute-journal und die Tagesthemen. Und dann sind sich die Leute sicher und str\\xf6men zur Grenze. Zu den hermetisch verschlossenen Grenz\\xfcbergangsstellen in Berlin und an der Westgrenze. Die Grenzpolizei hat keine Order, keinen Befehl und wei\\xdf nicht, was sie machen soll. Und dann, kurz vor Mitternacht, gibt ein hochrangiger Offizier an der Bornholmer Stra\\xdfe dem Druck der Massen nach. Er holt nicht sein Maschinengewehr und gibt keinen Schie\\xdfbefehl. Er \\xf6ffnet den Schlagbaum und das Tor und die Menschen fluten das unerreichbare, das eigene, das bisher geteilte Land.\\n\\nEin Versprecher gibt das Startsignal und sechs Wochen sp\\xe4ter ist die alte Diktatur in sich zusammengebrochen und Neues kann entstehen. F\\xfcr mich, die ich in der DDR gro\\xdf geworden bin und alles hautnah erlebt habe, ist der Held dieses Abends er: der Offizier in der Bornholmer Stra\\xdfe. Er hat sich nicht hinter seinem erlernten Feindbild, seinen Befehlsstrukturen versteckt, sondern ist seinem Herzen gefolgt oder seiner Vernunft oder seinen seit langem gehegten Zweifeln am System; und hat das Tor ge\\xf6ffnet statt zu schie\\xdfen.\\n\\nSagen wir nicht so leicht, ich als ein Einzelner kann da nichts tun. O doch. Ich kann, immer. Er ist f\\xfcr mich der beste Beweis. Und mir scheint, in diesen Tagen der Kriege in der Ukraine, in Israel und noch weltweit, wird es immer wichtiger, dass wir Einzelnen Flagge zeigen, uns gegen Hetze, Hass und Gewalt einsetzen und uns nicht hinter der Masse verstecken.'