Wie Literatur Krisen und Kriege vorhersagen soll

Published: Sept. 17, 2021, 4 a.m.

b'Kassandra ist eine tragische Figur in der Mythologie. Die Tochter des trojanischen K\\xf6nigs Priamos und Schwester von Hektor und Paris war von \\xfcberw\\xe4ltigender Sch\\xf6nheit gesegnet, weshalb ihr der Gott Apollon die Gabe der Weissagung schenkte. Auch Apollon selbst verliebte sich in Kassandra. Als diese jedoch seine Liebe nicht erwidert, verfluchte er sie: Fortan sollte niemand ihren Weissagungen Glauben schenken. Kassandra sah das Unheil durch das trojanische Pferd voraus, blieb jedoch unerh\\xf6rt. Bis heute werden solche Warnungen als Kassandrarufe bezeichnet.\\nF\\xfcr den deutschen Literaturwissenschafter J\\xfcrgen Wertheimer ist Kassandra Warnung und Inspiration zugleich. Warnung deshalb, weil wir auch heute nicht viel besser darin geworden seien, auf die Kassandras unserer Zeit zu h\\xf6ren \\u2013 also auf Menschen, die laut Wertheimer in der Lage sind, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sehr gut zu beobachten und zu analysieren \\u2013 und fr\\xfchzeitig auf die Warnungen zu reagieren. Inspiration, weil Kassandra Namensgeberin und Ausgangspunkt f\\xfcr ein Projekt war, das nicht nur f\\xfcr Wertheimer selbst, sondern wohl auch f\\xfcr viele Beobachter anfangs wie eines der gewagtesten und verr\\xfccktesten Unterfangen innerhalb der Zukunftsforschung erschien.\\nDas Ziel: Krisen und Konflikte mithilfe von Literatur fr\\xfchzeitig zu erkennen. Knapp vier Jahre lang untersuchten Wertheimer und sein Team in Zusammenarbeit mit dem deutschen Verteidigungsministerium Romane. "Wir schauen uns die Eingeweide einer Kultur an, lesen Subtexte, schauen, welche Emotionen die Texte in der Bev\\xf6lkerung ausl\\xf6sen. Literatur ist ein gro\\xdfes Teleskop, das uns erm\\xf6glicht, ins Innere von Menschen zu schauen", sagt Wertheimer im STANDARD-Podcast "Edition Zukunft".\\nDiese Literatur-Analyse soll \\u2013 \\xe4hnlich wie Seismographen \\u2013 Strukturen herauslesen, die Krisen, Konflikte oder Kriege in unterschiedlichen Regionen der Welt wahrscheinlich machen: Welche Feindbilder und Mythen werden in einer Gesellschaft konstruiert? Welche Rolle spielen Religionen? Wie wird der Sinn der Worte verf\\xe4lscht, welche Begriffe werden annektiert? Daraus entstehen Prognosen, die in der Lage sind, Konflikte ein bis drei Jahre im Voraus vorherzusehen, sagt Wertheimer.\\nUnd was tun mit diesen Informationen? "Damit k\\xf6nnen wir die sich aufbauenden verlogenen Mythen bereits im Anfang kommunikativ zerst\\xf6ren", sagt Wertheimer. Was er damit meint: Mithilfe von Sprache l\\xe4sst sich medial eine Gegenbotschaft erzeugen, die deeskalierend wirkt, noch bevor es zu einem Konflikt oder Krieg kommt.\\nIm Podcast spricht Wertheimer au\\xdferdem dar\\xfcber, was seine Forschung zu den aktuellen Entwicklungen in Afghanistan zu sagen hat, wer seiner Meinung nach die Kassandras von heute sind und wie sich die Erkenntnisse k\\xfcnftig auch f\\xfcr Europa nutzen lassen.'